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Die Briganten der Tuscia – Eine Geschichte zwischen Überleben und Aufbegehren

  • Autorenbild: Thomas Wiederkehr
    Thomas Wiederkehr
  • 29. Mai
  • 3 Min. Lesezeit

Die Mitte des 19. Jahrhunderts war für Italien eine Zeit des Aufbruchs – und der Erschütterung. Aus einem Flickenteppich von Fürstentümern, Kirchenstaat, Königreichen und Republiken sollte ein geeintes Land entstehen. Doch der Weg zur Nation war ein blutiger, widersprüchlicher und zutiefst emotionaler Wandel, der tief in das Leben der einfachen Menschen eingriff.


Ein Land, viele Herren

Vor der Einigung war Italien keine Nation, sondern eine geografische Bezeichnung. Der Norden stand unter österreichischer Kontrolle, der Süden unter dem Königreich beider Sizilien. Dazwischen lagen unabhängige Staaten – und der mächtige Kirchenstaat unter dem Papst, der mit eiserner Hand auch Teile der Tuscia regierte.


Der Traum von Einheit

Angetrieben von Ideen der Aufklärung, des Liberalismus und der Nationalromantik formierte sich eine Bewegung, die das Risorgimento – den «Wiederaufstieg» Italiens – forderte. Männer wie Giuseppe Garibaldi, Giuseppe Mazzini und Camillo Cavour kämpften mit Worten, Waffen und Diplomatie für ein geeintes Italien.


1861 wurde Viktor Emanuel II. zum König des neuen Königreichs Italien ausgerufen. Doch was auf den Karten als Einheit erschien, war in Wirklichkeit ein tief gespaltenes Land.


Viel Hoffnung, noch mehr Enttäuschung

Mit der Einigung verbanden sich grosse Hoffnungen – doch vielerorts brachte sie noch grössere Enttäuschung. Vor allem im Süden und in ländlichen Regionen wie der Tuscia fühlten sich die Menschen vom neuen Zentralstaat überrollt. Steuern, Wehrpflicht, neue Gesetze – all das wirkte fremd, hart, bedrohlich.


Viele, die einst ihre alten Unterdrücker bekämpfen wollten, wandten sich nun gegen die neue Obrigkeit – und wurden, als Ausdruck von Protest, Enttäuschung und Identitätsverlust, zu den legendären Briganti.


Der letzte Brigante

Geboren 1857 in Acquapendente, verliess Luciano Fioravanti in jungen Jahren seine Frau, seine drei Kinder und das bürgerliche Leben als Schriftsetzer. Er suchte mehr: Zugehörigkeit, Bedeutung, Freiheit.


Auf seinen Streifzügen durch die Wälder der Tuscia begleitete ihn sein treuer Freund Demetrino Bettinelli, genannt «Principino». Gemeinsam lebten sie in der Macchia, teilten Brot, Geschichten – und die Flucht vor der Carabinieri. Doch ihre Freundschaft wurde auf grausame Weise geopfert.


Loyalität – um welchen Preis?

Domenico Tiburzi war nicht nur in der Tuscia, sondern weit darüber hinaus berühmt – und gefürchtet – als «König der Maremma». Mit seiner Truppe herrschte er wie ein Schattenfürst, schützte die einen, bestrafte die anderen und wurde von vielen als eine Art Robin Hood verehrt.


Nichts wünschte sich der glücklose Luciano mehr, als in Tiburzis innersten Kreis aufgenommen zu werden. Doch wer Teil dieser Welt sein wollte, musste mehr als Mut beweisen. Luciano zahlte mit dem Unvorstellbaren: Um sich zu beweisen, tötete er jenen, der ihm am nächsten stand – seinen Freund Bettinelli, mit dem er sein bisheriges Leben unter freiem Himmel geteilt hatte.


Was folgte, war kein Ruhm, sondern ein Abstieg: Flucht, Verfolgung, Misstrauen, Gewalt. Luciano wurde zum Gespenst seiner selbst, getrieben von Schuld, gehetzt vom Staat. Die Zeit der Briganten ging zu Ende – nur Luciano streifte weiter, einsam, durch das Unterholz der Tuscia.


Das Ende

Sein letzter Zufluchtsort war eine Hütte bei Piansano, einst von Tiburzi selbst als Versteck genutzt. Dort wurde Fioravanti nach einem Hinweis verhaftet. Seine Bitte, in den letzten Stunden von einem «lieben Freund» begleitet zu werden, blieb unerfüllt. Die Carabinieri erschossen ihn, banden seinen leblosen Körper auf eine Leiter und lehnten diese an die Mauer der kleinen Kirche der Annunziata. Ein Fotograf wurde gerufen, um den Tod des letzten Briganten der Tuscia festzuhalten.


Zurück bleibt ein Mythos – zerrissen zwischen Held und Henker, Ehre und Entsetzen. Und eine Landschaft im Süden der Maremma, die bis heute nichts von ihrer rauen Wildnis und einem Aufbegehren der Tuscianesi gegen «die von Rom» eingebüsst hat.

 
 
 

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